Zwischen Serviceversprechen und Sicherheitsrisiko: Selbstbedienungskassen im Spannungsfeld des modernen Einzelhandels

Juli 22, 2025

Die Digitalisierung hat den Einzelhandel in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Eine der sichtbarsten Innovationen ist der Siegeszug der Selbstbedienungskassen (SB-Kassen) in Supermärkten, Drogerien und Baumärkten. Was für viele Kundinnen und Kunden eine komfortable Alternative zur klassischen Kasse darstellt, entwickelt sich für viele Händler zunehmend zum sicherheitstechnischen und finanziellen Problem. Denn mit der Automatisierung steigen auch die Herausforderungen – insbesondere beim Thema Diebstahl. Die aktuelle Lage zwingt zahlreiche Handelsketten zum Umdenken.

Ein digitaler Fortschritt mit Nebenwirkungen

SB-Kassen sind für viele Konsumentinnen und Konsumenten längst Teil des Alltags. Besonders in urbanen Gebieten erfreuen sich die Geräte großer Beliebtheit – sie ermöglichen einen schnellen, eigenständigen Einkauf ohne lange Warteschlangen. Laut einer YouGov-Umfrage nutzen rund zehn Prozent der Deutschen ausschließlich SB-Kassen. Unter den 18- bis 24-Jährigen ist die Akzeptanz besonders hoch. Diese Entwicklung passt zum Zeitgeist: Effizienz, Autonomie und Tempo sind prägende Werte moderner Konsumkultur.

Doch das bequeme Einkaufserlebnis hat eine Kehrseite: Eine aktuelle Studie des Handelsforschungsinstituts EHI zeigt, dass dem deutschen Einzelhandel im Jahr 2024 durch Ladendiebstähle ein Rekordschaden von knapp 3 Milliarden Euro entstanden ist. Ein wachsender Teil dieser Verluste wird auf Filialen mit SB-Kassen zurückgeführt. Zwar sind die Zusammenhänge statistisch noch nicht flächendeckend belegt, doch viele Händler berichten von auffällig höheren Inventurdifferenzen im Umfeld der Selbstbedienungskassen.

Zwischen Unachtsamkeit und Systematik: Die neue Qualität des Diebstahls

Früher war Ladendiebstahl häufig eine Gelegenheitstat – heute hat sich vielerorts ein System etabliert. Etwa ein Drittel der Kundendiebstähle wird laut EHI als gewerbsmäßig eingestuft. Dahinter stehen oft Einzeltäter im Auftrag oder ganze Banden mit präzise abgestimmten Vorgehensweisen. Beliebte Ziele sind kompakte, teure Produkte: Kosmetik, alkoholische Getränke, Rasierklingen oder Babynahrung. Besonders betroffen sind Drogerien und SB-Märkte mit breit gefächertem Sortiment.

Hinzu kommen Delikte, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen: Das absichtliche Scannen von günstigeren Obstsorten oder das Weglassen einzelner Produkte wird oftmals als Kavaliersdelikt wahrgenommen – ist aber strafrechtlich relevant. Ob vorsätzlicher Betrug oder bloße Unachtsamkeit: In der Summe entstehen erhebliche Verluste. Allein durch Kundschaft verursachte Schäden belaufen sich jährlich auf rund 2,9 Milliarden Euro. Zusammen mit Diebstählen durch Mitarbeitende, Lieferanten oder logistische Fehler steigt der Gesamtschaden im Einzelhandel auf fast 5 Milliarden Euro.

SB-Kassen als Katalysator einer Vertrauenskrise?

Die Sicherheitslage an SB-Kassen entwickelt sich für viele Händler zu einem strukturellen Dilemma. Während große Ketten wie Rewe, Edeka oder Ikea ihre SB-Infrastruktur weiter ausbauen, setzen andere auf Rückbau oder verschärfte Überwachung. Ausgangsschranken, KI-basierte Kamerasysteme oder verdeckt operierende Detektive in Kontrollräumen gehören vielerorts zum neuen Standard.

Ein Beispiel aus Regensburg verdeutlicht, wie systematisch heute das Verhalten an SB-Kassen analysiert wird. Die Reaktionen in sozialen Medien fielen ambivalent aus: Verwunderung, Zustimmung, aber auch Kritik an der Überwachung waren zu vernehmen. Viele Kundinnen und Kunden zeigten sich überrascht, wie engmaschig ihr Einkaufsverhalten inzwischen beobachtet wird.

Parallel herrscht unter vielen Händlern Frustration über die geringe Aufklärungsquote. Laut EHI bleiben rund 98 Prozent aller Ladendiebstähle unentdeckt oder ungesühnt. Selbst bei Anzeigen verlaufen viele Verfahren im Sande – sei es aus Geringfügigkeit oder aufgrund überlasteter Justizbehörden. Das untergräbt nicht nur die Abschreckung, sondern auch das Vertrauen in den staatlichen Eigentumsschutz. Der Handelsverband Deutschland (HDE) fordert daher eine konsequentere Strafverfolgung sowie stärkere Unterstützung durch Polizei und Justiz.

Personalnot trifft auf Konsumflaute

Ein weiterer Faktor, der den Siegeszug der SB-Kassen befeuert, ist die angespannte Personalsituation im Einzelhandel. Laut einer Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) könnten bis 2027 mehrere zehntausend Fachkräfte fehlen – mehr als in jeder anderen Branche. In dieser Lage erscheinen SB-Kassen als pragmatische Antwort: Sie ermöglichen einen nahezu reibungslosen Betrieb bei geringerer Personaldichte. Rewe-Chef Lionel Souque lobte SB-Kassen als Chance, vorhandenes Personal gezielter im Kundenservice oder bei der Regalpflege einzusetzen.

Doch die Kehrseite ist offensichtlich: Je weniger Mitarbeitende auf der Fläche präsent sind, desto größer ist die Diebstahlsgefahr. Studien zeigen, dass soziale Kontrolle ein entscheidender Faktor bei der Kriminalitätsprävention ist. Wo diese fehlt, steigt nicht nur die Gelegenheit, sondern oft auch die Versuchung.

Internationale Perspektiven: Ein Blick über den Tellerrand

Auch international wird das Spannungsfeld zwischen SB-Komfort und Sicherheit heiß diskutiert. In Großbritannien beklagen große Handelsketten wie Tesco oder Boots zunehmende Kundenbeschwerden: Technische Fehler, mangelhafte Bedienbarkeit und das Gefühl, „selbst für die Arbeit der Kassierer verantwortlich zu sein“, führten dazu, dass einige Unternehmen die Zahl der SB-Kassen wieder zurückfahren. In den USA setzen Handelsriesen wie Walmart oder Target auf neue Konzepte: Einschränkungen bei der Artikelzahl, verstärkte Aufsicht oder gar komplette Abschaltungen der SB-Kassen in Hochrisikofilialen sind Teil einer wachsenden Sicherheitsstrategie.

Diese Entwicklungen zeigen: Die Technologie allein löst das Problem nicht. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Abwägung zwischen Automatisierung, Kundenbedürfnissen und Sicherheitsanforderungen. In einem Land wie Deutschland, das sich ohnehin mit Inflation, Konsumzurückhaltung und demografischem Wandel konfrontiert sieht, könnte eine unreflektierte Expansion von SB-Kassen eher neue Probleme schaffen, als bestehende zu lösen.

Hightech gegen Langfinger – aber zu welchem Preis?

Der Einzelhandel reagiert – mit massiven Investitionen in Sicherheitstechnik. 2024 gaben Händler in Deutschland rund 1,6 Milliarden Euro für präventive Maßnahmen aus. Neben klassischen Sicherheitskameras kommen zunehmend intelligente Systeme zum Einsatz: KI-gestützte Mustererkennung, biometrische Verfahren, automatische Bewegungsanalysen oder Warnsysteme bei Scan-Anomalien sollen helfen, potenzielle Diebstähle frühzeitig zu erkennen.

Doch diese Hightech-Offensive hat auch Schattenseiten. Der Datenschutz gerät unter Druck, ebenso wie das Vertrauen der Kundschaft. Wenn der Einkauf zur Kontrollsituation wird und jede Bewegung analysiert wird, droht das Einkaufserlebnis Schaden zu nehmen. Nicht zuletzt stellt sich die ethische Frage: Inwieweit darf ein Unternehmen präventiv in die Privatsphäre eingreifen – und wann wird Kontrolle zur Überwachung?

Fazit: Ein Balanceakt zwischen Fortschritt und Verantwortung

Selbstbedienungskassen sind gekommen, um zu bleiben – darin herrscht branchenübergreifender Konsens. Sie stehen für Tempo, Flexibilität und eine Antwort auf den anhaltenden Fachkräftemangel. Doch sie sind kein Selbstläufer. Der steigende Ladendiebstahl, das zunehmende Sicherheitsbedürfnis und der Vertrauensverlust gegenüber dem System zeigen die Grenzen dieser Technologie auf.

Die Zukunft liegt wohl nicht in einem radikalen „Entweder-oder“, sondern in einem durchdachten „Sowohl-als-auch“: Menschliche Präsenz muss ergänzt werden durch kluge Technik – nicht ersetzt. Ein nachhaltiges Sicherheitskonzept, das sowohl ökonomische als auch ethische Aspekte berücksichtigt, wird entscheidend sein. Denn letztlich geht es nicht nur um den Schutz von Waren, sondern um das Fundament des Einzelhandels: das Vertrauen der Kundinnen und Kunden.

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